Eröffnungsrede
zur Ausstellung „Aus den Wolken geboren ...und andere Naturgeburten
– ein virtueller fantatierischer Besuch der Documenta 13 –von Rotraut Richter“
gehalten von
Brigitte Siebrasse
Liebe Gäste, lieber Wolfgang Marx, lieber Dorian Döding, und last but not least liebe Rotraut Richter,
Ich schicke voraus, dass ich keine amtlich geprüfte Kunstexpertin bin, sondern aus purer Lust und Freude an den digitalen Bildern Rotraut Richters sehr gern bereit, zu ihrer Kunst zu sprechen. Meine große Sympathie und Zuneigung und Bewunderung für die digitale Kunst von Rotraut Richter funktioniert reibungslos, auch wenn ich über den technischen Hintergrund digitaler Fotografie keinen blassen Schimmer besitze. Hand aufs Herz, eigentlich kann ich ja noch nicht einmal analog von digital unterscheiden, was Ihrer nachsichtigen Beurteilung meiner vielleicht etwas unorthodoxen Hommage hoffentlich keinen Abbruch tut ...
Eindeutig steht Rotraut Richter mit ihrer wunderbar eigenwilligen Kunst in der Tradition der surrealistischen Fotografie. Ausgebildet ganz klassisch in den 60er Jahren in Berlin in Ölmalerei und Kunstgeschichte, hat sie sich im 21. Jh., in einem Alter, wo andere ihre Rente gern auf Mallorca verzehren, der digitalen Malerei verschrieben. Ab 2000 hat sie angefangen, mit ihrem Computer ihre Fotografien zu übermalen und ihre eigenwilligsten Tierkreationen, ihre Fantasietiere, die sie liebevoll abgekürzt Fantatiere nennt, erschaffen. Die meisten von uns kennen das, wir sehen in bestimmten Formen der Natur, in den Wolken oder den Gegenständen manchmal Figuren, die objektiv nicht vorhanden sind. Mit diesem Phänomen der visuellen Illusion, oder nennen wir sie auch optische Täuschung, spielt die Künstlerin. D.h. sie bevölkert ausholend selbstbewusst ihre gegenständlichen Fotografien mit Traum- und Fantasiefiguren, was vielleicht auch einem nachvollziehbaren Unmut an einer kalten und herzlosen Realität entsprungen sein könnte. Außerdem, sind nicht auch diese so genannten Fantatiere Teil unserer Kindheitsfantasien und bringen sie nicht eine theatralische Liebenswürdigkeit in unser Leben zurück?
Dennoch steht die Frage im Raum: Warum diese Versessenheit auf Tierkreationen? Das kann, meine ich, niemand besser erklären als der Schriftsteller und Nobelpreisträger Elias Canetti, der sagte, dass man alles leiblich Schöne erst an Tieren erleben könne, und dass, wenn es keine Tiere gäbe, niemand mehr schön wäre.
Dieser Satz scheint wie geschaffen für die wunderbare Fabelwelt Rotraut Richters, der es gelingt, mit ihren Metamorphosen zwischen Tier und Dingwelt in diesem spannenden Vorgang die Wirklichkeit unvertraut zu machen und neu zu erschaffen. Traumszenen und Mythen, Metamorphosen und Fabelwesen geben Zeugnis ab von ihrer Lust an der Darstellung des Spiels als künstlerische Strategie.
Die legendäre amerikanische Essayistin Susan Sontag schreibt, dass Fotos sich nun mal zu allerlei alchimistischen Prozeduren eignen und dem einzelnen Moment den Charakter eines Geheimnisses verleihen. Susan Sontag zitiert jedoch
auch die amüsante Behauptung eines Kollegen, die Fotografie sei deshalb schon eine Kunst, weil sie lügen könne. Na dann! Was die Lüge und die digitale Fotografie nun miteinander gemein haben, hat Susan Sontag uns leider vorenthalten, denn sie starb bereits 2004.
Es sei hier an dieser Stelle angemerkt, dass neben Rotraut Richter zwei noch ältere Künstlerkollegen mit großem Renommee die digitale Kunst erst kürzlich auch für sich entdeckt haben: Gerhard Richter und David Hockney, beide einiges über 80, was mir die Künstlerin bei meinem Besuch in ihrer privaten Fantatierhöhle nicht ohne Stolz erzählte.
Dass der Kosmos von Rotraut Richter sich seit dem letzten Jahr um 28 Exponate vergrößert hat, ist in gewisser Weise der fulminanten dOCUMENTA 13 geschuldet, die auch Rotraut Richter ungemein fasziniert und inspiriert hat, bis hin zu ihrer ureigenen künstlerischen Nachlese, die wir heute sehen können. Vor allem hat sie die großartige Landschaft der Karlsaue, zur dOCUMENTA 13 gehörig, fotografiert und später an ihrem Arbeitsplatz sozusagen neu eingekleidet mit ihrer Fantasie und mit ihrer ureigenen Handschrift. Diese 28 Exponate sind vielfach verknüpft mit und stehen in Bezug zu Dokumenta-Künstlerinnen und Künstlern, die vor allem in der Karlsaue Installationen hatten, wie der Afrikaner Issa Samb, die Australierin Fiona Hall und der Japaner Shinro Ohtake. Deren Formeln zur Erhaltung einer Welt, in der Schutz ist für alle, sind naturgemäß flankiert und wohl auch beschützt von ihren Wolken- und Naturgeburten, ihren neu geborenen Naturfantatieren, Wolkenfantatieren, Fantamelen und – wie auch anders - einem Fantafang.
Mit „digitaler Kompetenz“ wacht Rotraut Richter über das eigene Werk und ihren neuen und alt bekannten Fantageschöpfen, ihre Einheit in der Vielfalt, ihrer Beständigkeit im Wandel, die surrealen Momente, die Komik, das Groteske, das feierlich Makabre. Ganz zu schweigen von der köstlichen Benennung ihrer Bilder, die u.a. „Fantaschwein in der dOCUMENTA – Karlsaue“ heißen oder „Fantamaskenmann“ oder „Heuschreckenkuss in der Karlsaue.“ In ihrer magischen Fülle erinnert sie mich deshalb auch an die Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim, die berühmte Pelztassenfrau, die gerade in Berlin eine große Retrospektive hat aus Anlass ihres 100. Geburtstages. Die Aussage Meret Oppenheims: „Jede Idee wird mit ihrer Form geboren,“ passt ebenso auf Rotraut Richters Kunst.
Abschließend sei gesagt: Meine Gedanken zu den Wolken- und Naturgeburten der Digitalkünstlerin Richter sollen nicht abschließen sondern aufschließen und erst recht den Weg über das Erklärbare und Feststellbare hinaus offen halten für das Geheimnisvolle, das sinnlich Ansprechende, das Märchenhafte, das Fantasieanregende, das gefühlsmäßig Heitere, das Sie hier in jedem Bild sehen können.
Lassen Sie sich zum Nacherleben einladen, um zu einer Synthese von Genuss und Erkenntnis zu gelangen. Danke für Ihr Interesse!
Brigitte Siebrasse, 14. September 2013